Das objektive quantitative EEG in der personalisierten Medizin
Prof. Dr. Wilfried Dimpfel
Justus-Liebig-Universität Giessen c/o NeuroCode AG, 35578 Wetzlar
Momentan erleben wir einen Wandel des Medizinverständnisses, der sowohl die
Erstellung von Diagnosen im Krankheitsfall als auch die Behandlung betreffen. Wir sprechen von einer
„individualisierten Medizin“. Der individuelle Patient soll also im Vordergrund
stehen und nicht die Einordnung seiner Leiden in vorgefertigte Kategorien.
Damit wird auch die Behandlung anhand von Leitlinien für Diagnosekategorien in
Frage gestellt. Dieser schon nicht mehr ganz neue Ansatz trifft vor allem auf
Erkrankungen des Zentralnervensystems zu, wo eine Störung oder Unterfunktion
einzelner elektrochemischer Schaltkreise zu sehr unterschiedlichen klinisch
fassbaren Ausfallserscheinungen führt. Dabei spielt es keine Rolle, ob die
Funktionsstörung durch einen Tumor, einen Infarkt oder eine Blutung verursacht
wird. Maßgeblich ist die gestörte lokale neuronale Funktion. Ein gutes Beispiel
stellen Hirninfarkte dar, die auf Grund ihrer Heterogenität zu sehr
unterschiedlichen klinischen Symptomen führen. Von daher ist kaum zu erwarten, dass
alle Infarkte auf ein und dasselbe Medikament ansprechen. Damit sind wir wieder
beim individuellen Patienten mit seiner spezifischen Störung seines Gehirns.
Wie könnte nun eine nähere individuelle Charakterisierung der gestörten
Hirnfunktion an Ort und Stelle aussehen?
Auf Grund jahrelanger Erfahrung bin ich der Meinung, dass vor allem die
Ableitung des EEG (Elektroenkephalogram, wie Hans Berger aus Jena, der
Entdecker dieser elektrischen Hirnaktivität beim Menschen es nannte) geeignet
ist, diese personalisierte Medizin zu unterstützen. Allerdings bedarf es hierzu
einer quantitativen Auswertung des Rohsignals mittels Frequenzanalyse, wie sie
Berger und Dietsch bereits 1932 angeregt haben. Leider verbringen die Kollegen
in aller Welt sehr viel Zeit damit, das Rohsignal anhand von mehr oder weniger
spezifischen Charakteristika wie „steile Welle, Spike and Wave, Verlangsamung“
usw. zu beurteilen. Diese äußerst subjektive und auf jahrelanger Erfahrung
beruhende Interpretation des EEG ist zwar mit Tausenden von Publikationen
bestens dokumentiert, jedoch in seinem Nutzen für den individuellen Patienten
doch sehr beschränkt. Folgen wir jedoch der Anregung von Berger und Dietsch,
öffnen sich weitreichende neue Möglichkeiten, die heute mit Computerhilfe auch
eine große Zeitersparnis bringen (Berger benötigte seinerzeit für die
Berechnung des Frequenzinhaltes seines EEG etwa 4 Wochen!). Dank der
Zurverfügungstellung der mathematischen Grundlage durch den französischen
Mathematiker Fourier im 18-ten Jahrhundert sowie Computerhilfe erscheint das
quantitative Ergebnis einer EEG-Ableitung heute online in Echtzeit auf dem
Bildschirm. Übrigens lebt die gesamte astronomische Forschung von dieser Art
der Frequenzanalyse. Im wissenschaftlichen Bereich wird die auch Spektralanalyse
genannte Bearbeitung der Rohdaten schon seit den 60-er Jahren des letzten
Jahrhunderts in steigendem Maße eingesetzt. Was fehlte, war ein
„Praxis-taugliches“ Computerprogramm, das im Alltag in Klinik und Praxis
eingesetzt werden konnte. Eine erste Version dieser von mir zusammen mit dem
Mathematiker und Physiker Hans Carlos Hofmann zusammen entwickelten Hard- und
Software wurde 1989 auf der MEDICA in Düsseldorf vorgestellt und wurde unter
dem Namen CATEEM®(Computer-Aided-Topographical-Electro-Encephalo-Metry) auf
Grund seiner Verwendung bereits in über 100 Publikationen erwähnt.
Grob gesagt wird das Ergebnis der Spektralanalyse sehr übersichtlich auf
dem Monitor bereits während der Ableitung dokumentiert. Sowohl das Rohsignal
(optische Kontrolle wegen möglicher biologischer oder technischer Artefakte)
wie auch das Ergebnis der Spektralanalyse werden für 17 einzelne Hirnregionen
separat als Balkengraphik wie auch als Hirnkarte dargestellt. Auch der
Zeitverlauf der elektrischen Leistung wird für eine ausgewählte Hirnregion
separat dargestellt. Ein Bespiel der Hirnkarte wird in Abb. 1 gegeben.
Abb. 1 Ergebnis der Spektralanalyse
des EEG eines Parkinsonpatienten als topographische Karte. Man sieht deutlich
fokale Erhöhungen der spektralen Leistung im langsamen Frequenz-bereich (rot
und orange) im Schläfenlappen.
Mit Hilfe eines gleitenden Mittelwerts über z.B. 3 Minuten können Orte mit
erhöhter oder erniedrigter Aktivität sichtbar gemacht werden. Derartige
Regionen können schon während der Ableitung mit Daten einer gesunden
Referenzgruppe von mehreren Hundert gesunden Gehirnen (Daten abgelegt in Form
einer Datenbank) statistisch verglichen werden. Allein diese Tatsache würde die
Anwendung der Spektralanalyse in Klinik und Alltag rechtfertigen, da sie eine
absolut objektive Auswertung anhand naturwissenschaftlich gesicherter Parameter
darstellt. Der Vergleich gibt für jeden einzelnen der 102 Parameter (17
Elektrodenpositionen mal 6 Frequenzbereiche) an, mit welcher statistischen
Wahrscheinlichkeit die Abweichung von der Referenzdatenbank existiert und damit
als pathologisch zu werten ist. Im folgenden dokumentiere ich einige Beispiele
wie z.B. Epilepsie:
Den ersten Eindruck bei der Bewertung des EEG dieses Patienten vermittelt
die Hirnkarte (Abb. 2), die über 3 Minuten gemittelte Daten enthält. Die Karte
entsteht durch Kodierung der elektrischen Leistung der einzelnen Frequenzen an
17 Positionen in Spektralfarben mit nachfolgender additiver Farbmischung wie
vom Fernsehen her bekannt (sog. RGB Mode).
Abb. 2 Ergebnis der Spektralanalyse
des EEG eines Epilepsiepatienten als topographische Karte. Man sieht deutlich
fokale Erhöhungen der spektralen Leistung im linken Schläfenlappen.
Abb. 3 Ergebnis der Spektralanalyse
des EEG eines Epilepsiepatienten als Balkengraphik für alle
Elektrodenpositionen (Hirnregionen). Man sieht deutlich fokale Erhöhungen der
spektralen Leistung im langsamen delta und theta Frequenzbereich (rot und
orange) im linken Schläfenlappen (T3) sowie erhöhte spektrale
Leistung im beta Bereich in beiden Temporallappen.
Hier ist im Schläfenlappen unschwer ein fokaler Befund erkennbar, der auf
Grund der Farbe (hell) den langsamen Frequenzen zuzuordnen ist. Dieser Eindruck
wird verstärkt und mehr im Detail in Form einer Balkengrafik dokumentiert (Abb.
3). Hier sieht man eine deutlich erhöhte delta, theta, alpha1 sowie beta
Aktivität. Untermauert wird dies durch die numerische Tabelle der relativen
Verteilung der Frequenzen:
Die Tabelle zeigt die relative prozentuale Verteilung der elektrischen
Leistung in den 6 definierten Frequenzen delta, theta, alpha1, alpha2, beta1
und beta2. Der höchste Wert für delta wird an F7 gemessen, der
höchste Wert für theta an T3, sowie der höchste Wert für alpha1
ebenfalls an T3. Um nun herauszufinden, inwieweit diese Werte
pathologisch sind, erfolgt der Vergleich gegen die Referenzdatenbank, der in
der nächsten Tabelle gezeigt wird. Hier zeigt sich, dass die Abweichung im
theta Band in einem Indexwert von 4 besteht, d.h. die Abweichung 104 : 1 beträgt. Das entspricht
einer Wahrscheinlichkeit von 10 000 zu 1, dass dieser Wert pathologisch ist.
Die Ergebnisse für den delta und alpha1 Bereich mit dem Index 2 sind
grenzwertig und entsprechen einer Wahrscheinlichkeit von nur 100 : 1 im Sinne
eines pathologischen Befundes. Für negative Werte bestehen noch keine
Erfahrungen bezüglich der Interpretation.
Die Tauglichkeit des Verfahrens zeigt sich auch in der Diagnose „Migräne“,
die sich als sehr heterogenes Krankheitsbild zeigt. Nach Erfahrung mit mehr als
600 Patienten steht nunmehr fest, dass über 90 % der Migräniker eine Abweichung
der spektralen Leistung aufweisen. Die folgenden Abbildungen zeigen ein Beispiel.
Abb. 4
Ergebnis der Spektralanalyse des EEG eines Migränepatienten als topographische
Hirnstrom-karte für alle Hirnregionen.
Die Abweichungen von der Norm beziehen sich in diesem Fall auf die alpha
Frequenzen (gelb-grüne Färbung in der Hirnkarte im Stirnlappen-Schläfenlappen
Bereich (Abb. 4). Die quantitative Analyse ergibt eine erhöhte Aktivität im
seitlichen Stirnhirn für alpha1 sowie eine stark erhöhte Aktivität im
Schläfenlappen für alpha2 (Abb. 5). Diese Werte entsprechen denen in der darauf
folgenden Tabelle. Der Vergleich mit den gesunden Referenzgehirnen beweist die
statistisch abgesicherte pathologische Aktivität mit Indexwerten von 4, was
wiederum einer Wahrscheinlichkeit von 10 000 : 1 entspricht.
Abb. 5
Ergebnis der Spektralanalyse des EEG eines Migränepatienten als Balkengraphik
für alle Elektrodenpositionen (Hirnregionen). Hier ist eine fronto-temporale
Erhöhung der alph1 und alpha2 Aktivität
zu erkennen (gelb und grüne Balken).
Der individuellen Erkennung von Änderungen der hirnelektrischen Aktivität
sollte nunmehr auch eine personalisierte Therapie folgen. Da sich der
individuelle Befund auf einzelne Frequenzen bezieht, liegt der Gedanke nahe,
die spektrale Leistung der gestörten Frequenzen zu beeinflussen. Hierbei spielt
es grundsätzlich keine Rolle, mit welchem therapeutischen Ansatz man dies
erreicht. Als Pharmakologe kenne ich mich am besten mit der medikamentösen
Beeinflussung aus. Für viele Medikamente kenne ich die Auswirkungen von
Arzneimitteln auf die spektralen Muster des Gehirns, vorwiegend auch aus
präklinischen Versuchen. Aber es ist auch ein indirekter Weg denkbar. Dank
jahrelanger Forschung konnte ein Zusammenhang zwischen der elektrischen
Leistung innerhalb der definierten Frequenzen und der Aktivität von
Botenstoffen erkannt werde. So stehen die langsamen delta Frequenzen unter
cholinerger Kontrolle, ändern sich also mit der Aktivität von Acetylcholin.
Alpha2 Frequenzen ändern sich mit der Aktivität von Dopamin. Nun ist für sehr
viele Medikamente mit zentralnervösem Angriff bekannt, welches Botenstoffsystem
sie in erster Linie modulieren. So besteht ein Zusammenhang zwischen theta
Wellen und Noradrenalin. Änderungen im glutamatergen System führen zu Änderungen der Aktivität in den beta1 Wellen. Die spektralen
alpha1 Wellen stehen unter serotonerger Kontrolle, während die beta2 Wellen
unter GABA-erger Kontrolle stehen. Mit dieser Kenntnis ist es also möglich mit
deutlich höherer Erfolgswahrscheinlichkeit die erkannte pathologische
Abweichung zu beeinflussen und eine individuelle Therapie zu initiieren. Dies
konnte in der Vergangenheit von mir mehrfach mit Erfolg praktiziert werden.
Aus dem Gesagten wird deutlich klar, dass das objektive quantitative EEG
zukünftig eine wichtige Rolle in der „personalisierten Medizin“ spielen wird,
sofern die Methode „neo-CATEEM®“ breiten
Eingang in Klinik und Praxis findet. Weitere Informationen zu neo-CATEEM® finden sich unter
Email: w.dimpfel@neurocode-ag.com
Tel.: +49(0)64412002033
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